Blitzlichter aus den Seminaren

Freiwilligendienst in jedem Lebensalter

Beim Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) und dem Bundesfreiwilligendienst (BFD) denken viele an junge Menschen in der Orientierungsphase zwischen Schule und Ausbildung. Weniger bekannt ist, dass Erwachsene in jedem Lebensalter einen Freiwilligendienst machen können. Die Diakonie RWL hat eine lange Tradition des Freiwilligendienstes für alle Generationen. Bei einem Seminar in Köln wurden jetzt ältere Freiwillige verabschiedet.

Lebendige Diskussion in der Gruppe

Grundlage der Bildungsarbeit: Lebendiger Austausch in der Gruppe

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Rund 2.000 Freiwillige werden von der Diakonie RWL begleitet. Nur 70 von ihnen sind aktuell über 27. Die meisten davon sind im BFD Ü27. Acht Freiwillige über 27 sind noch aus dem Programm "Freiwilligendienst aller Generationen", das die Diakonie RWL jetzt auslaufen lassen wird.

Dafür soll der BFD Ü27 bei der Diakonie RWL ausgebaut werden, erklärt Jürgen Thor, der mit Michael Brausch das Zentrum Freiwilligendienste in der Diakonie RWL leitet.Seit 2005 hat sich die Diakonie RWL an verschiedenen Modellprojekten zum generationenübergreifenden Freiwilligendienst (GüF) beteiligt. Auch nach Auslaufen der letzten Programmförderung durch das Bundesfamilienministerium 2011 wurde das Programm unter Leitung von Bildungsreferentin Johanne Brinkmann aus eigener Kraft fortgesetzt.

Die soll jetzt in den Ausbau des Bundesfreiwilligendienstes für Menschen über 27 einfließen. "Wir wollen die Zahl der Freiwilligen im BFD Ü27 erhöhen. Die Teilnehmer profitieren von einer größeren Vielfalt der Bildungsangebote und davon, dass Seminartage regionaler organisiert werden können", so Jürgen Thor. 

Gegenüberstehend

Johanne Brinkmann im Gespräch mit Manfred Bubner

Begleitende Bildungsarbeit

Die Durchführung von Bildungsangeboten für Freiwillige im BFD ist gesetzlich geregelt. Freiwilligen über 27 müssen mindestens zwölf Seminartage im Jahr angeboten werden. Bei der Diakonie RWL sind es - inklusive politischer Bildung - 16 Tage. 

Die Weiterentwicklung weicher Kompetenzen hat dabei Vorrang vor "Wissensvermittlung", die aber auch organisiert wird. Grundlage ist der Austausch in der Gruppe. Dieses Potenzial ist durch die große Vielfalt im BFD Ü27 besonders groß, schon weil die Teilnehmenden aus ganz unterschiedlichen Altersgruppen kommen. Und sie sind, wie junge Freiwillige auch, in sehr verschiedenen Einsatzfeldern im sozialen Bereich tätig.

Die Freiwilligen treffen in ihrem Dienst auf Menschen mit Demenz, auf Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen oder akuten Notlagen. Wiederkehrendes Thema ist so die Herausforderung, sich in Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenssituationen einzufühlen. Die Seminargruppe selbst dient da schon als Lernlabor. "In den Bildungstagen habe ich gelernt, meine eigene Meinung nicht immer zu ernst zu nehmen. Dann kann ich mich leichter von den Gedanken der anderen in der Gruppe beflügeln lassen", berichtet Manfred Bubner (75), der viele Jahre als Freiwilliger gearbeitet hat (siehe unten). 

Still nebeneinander auf einer Bank

Pause, mal ohne Gespräche

Seminaralltag

Beim ersten von zwei Seminartagen in der letzten Woche in Köln ging es um die Einfühlung in die Lebenssituation von Wohnungslosen oder Obdachlosen. Wie geraten Menschen in so eine Lage, wie erleben und deuten sie ihre Situation und wie sehen die Hilfsangebote aus ihrer Perspektive aus? Bildungsreferent Christian Carls, der selbst mehrere Jahre ehrenamtlich mit Wohnungslosen Menschen gearbeitet hat, bietet als Impuls eine Collage aus Berichten von Menschen ohne Wohnung. Mehrere berichten, dass sie, seit sie die Wohnung verloren haben, auf Alkohol völlig verzichten. Das Überleben auf der Straße erfordert alle Kräfte und Sinne. Das ist für manche Teilnehmende im Seminar überraschend. Diskutiert wird dann über die Grenzen des Hilfesystems, das an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen häufig scheitert. 

Älterer Teilnehmer klettert über einen Zaun

Exkursion im Regen. Über Zäune Klettern geht aber nur ohne Schirm. 

Alternative Stadtführung durch Köln

Für den Nachmittag hat Bildungsreferentin Petra Ladwein eine alternative Stadtführung durch Köln organisiert. Hier geht es zu den Orten, wo Randgruppen in Köln leben und überleben. Bevor es losgeht, wird der Stadtführer Thomas Köhn kritisch befragt. "Wir wollen keine Fleischbeschau", erläutert ein Teilnehmer seine Bedenken. Thomas Köhn kann mit seinem Konzept überzeugen, und dann geht es durch den Regen vorbei an historischen und aktuellen Treffpunkten und Anlaufstationen von Wohnungslosen und anderen Randgruppen.

Gruppentreff hinter dem Kölner Bahnhof

Hinter dem Kölner Bahnhof: Hier am Breslauer Platz trafen sich früher die Gastarbeiter, dann die Punks und bis heute Wohnungslose, die in der Nähe eine Anlaufstation finden.

"Was habe ich gemacht, was habe ich gelernt, welche Fähigkeiten habe ich gezeigt?"

Immer geht es in den Seminaren auch darum, den eigenen besonderen Beitrag in der Hilfe für Bewohner, Patienten und Klienten wahrzunehmen und sichtbar zu machen. Denn die Freiwilligen in den Einsatzstellen sind weit mehr als eine personelle Verstärkung.

"Die Freiwilligen bereichern die Arbeit in den Einsatzstellen durch neue Impulse und die besondere Qualität freiwilliger Mitarbeit", erklärt Jürgen Thor.Ein solches Selbstbewusstsein zu stärken, ist eine weitere Aufgabe der Seminararbeit.

"Was habe ich gemacht, was habe ich gelernt, welche Fähigkeiten habe ich gezeigt", sind wiederkehrende Fragen. Drei ältere Teilnehmende, die aus dem Dienst ausscheiden und eine junge Freiwillige, die ihren Dienst gerade begonnen hat, haben ihre persönlichen Lernerfahrungen für diesen Beitrag zusammengefasst.

Portrait

Manfred Bubner

Ich kann Menschen nehmen, wie sie sind
(Manfred Bubner, 75)

Manfred Bubner hat zwölf Jahre freiwillig die Förderangebote an einer Bonner Hauptschule unterstützt. In seinem Leben davor war er Regierungsdirektor im Finanzministerium.

"Ich habe erlebt, dass ich so akzeptiert werde, wie ich bin, mit allen Seiten, auch von den Jugendlichen. Gleich vom ersten Tag an. Dabei hilft sicher auch, dass bei mir niemand Noten kriegt. Ich rede mit den Jugendlichen. Manche haben zuhause keinen Ansprechpartner. Sie kommen zu mir, um ihre Sorgen oder auch nur aus dem Alltag zu erzählen.

Ich kann auch von den Schülerinnen und Schülern lernen. Angefangen von der Jugendsprache oder Kraftausdrücken, die ich bis dahin noch nie gehört hatte. Und ich habe erlebt, dass ich viel toleranter sein kann, als ich bis dahin war. Mein Verständnis für die Jugendlichen ist so gewachsen. Ich habe gelernt, sie zu akzeptieren, mit allen ihren Schwächen.

In den Bildungstagen habe ich gelernt, meine eigene Meinung nicht immer zu ernst zu nehmen. Dann kann ich mich leichter von den Gedanken der anderen in der Gruppe beflügeln lassen."


Portrait

Günther Augustini

Ich kann zuhören - wirklich zuhören
(Günther Augustini, 75)

Günther Augustini hat in seinem Beruf viele Jahre beim Evangelischen Entwicklungsdienst die Entwicklungshilfe für Südafrika gesteuert. Seit fast sechs Jahren engagiert er sich in der Sozialen Betreuung in einem Evangelischen Seniorenzentrum. "Ich helfe nicht nur anderen Menschen, ihren Tag zu strukturieren - der Dienst strukturiert auch meinen eigenen Alltag", erzählt Günther Augustini. Dazu gehört auch die Fahrt zur Einsatzstelle in Bonn-Oberkasse fährt, insgesamt 20 Kilometer, die er drei Mal die Woche mit dem Rad fährt.

"Ich habe gelernt, noch viel geduldiger mit Menschen umzugehen, mich wirklich auf jemanden einzustellen und zuzuhören. Das zeigt sich an so simplen Sachen, dass ich keinen Satz des anderen mehr zu Ende führe, selbst wenn es langsam geht. 

Und ich habe erfahren, welche große Bedeutung das Zuhören hat. Eine Frau im Heim hat kurz vor ihrem Tod noch einmal ihre Augen geöffnet und mich angesprochen: 'Mein Freund'. Ich hatte sie ein Jahr lang begleitet.

Ich weiß jetzt auch, dass ich mich in Gruppen wohlfühlen kann. Auf die Bildungstage habe ich mich immer gefreut. Früher hatte ich immer etwas Schiss vor Gruppen."

Portrait

Brigitte Henning-Wolter

Ich kann Gemeinschaft stiften
(Brigitte Henning-Wolters, 65)

Brigitte Henning-Wolters hat als Sekretärin und Sachbearbeiterin gearbeitet. 18 Monate hat sie im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes in einem Altenheim in Kaiserswerth gearbeitet. "Soviele Bildungstage wie in den letzten 18 Monaten hatte ich in meinem Berufsleben nie", bemerkt sie. "Auch die Kolleginnen im Altenheim beneiden mich darum". 

"Ich organisiere dreimal die Woche eine gesellige Runde. Jedesmal singen wir zwischendurch Volkslieder, manche sogar mit vier Strophen. Wir singen gemeinsam und erleben Gemeinschaft. Gemeinschaft stiften - das kann ich inzwischen. Das geht nicht nur mit Volksliedern. Gemeinschaft entsteht auch, wenn ich Absätze aus der Zeitung vorlese und wir gemeinsam an dem teilhaben, was um uns herum passiert.

Und ich habe gelernt, Stress rauszunehmen - in den Gruppen im Altenheim, mit denen ich arbeite, und für mich selbst."

Portrait

Viktoria Pidopryhora

Ich habe einen guten Kontakt zu alten Menschen - mit und ohne Demenz
(Viktoria Pidopryhora, 28)

Viktoria Pidopryhora ist neu im Bundesfreiwilligendienst. In der Ukraine hat sie ein Psychologiestudium absolviert. Hier in Deutschland sucht sie eine neue berufliche Zukunft. Die Arbeit mit alten Menschen liegt ihr – so viel hat sie in den ersten zwei Monaten ihres Freiwilligendienstes in einem Essener Altenheim schon festgestellt.

"Ich erlebe, dass ich mit alten Menschen gut kommunizieren kann und mich gut mit vielen verstehe, mit den Bewohnern mit Demenz wie den Bewohnern ohne Demenz. Und ich lerne, auf den Moment zu achten. Ich freue mich über die guten Momente, wenn Menschen etwas Nettes zu mir sagen oder ein Lächeln auf ihre Lippen kommt. Wir wissen alle nicht, was morgen ist. Wir können nur unser heutiges Leben besser machen. Das gilt nicht nur für Menschen mit Demenz - das gilt für uns alle.

Ich lerne auch viel im Miteinander hier in den Bildungstagen. Unsere Gruppe ist wie ein Querschnitt der Gesellschaft. Wir sind sehr unterschiedlich, schon im Alter. Und wir zeigen, dass wir unsere Unterschiedlichkeit akzeptieren können, dass wir uns zuhören können, dass ein gutes Miteinander möglich ist und dass jeder etwas mitnehmen kann."

Bericht und Fotos: Christian Carls